Nicht weit von unserem Hotel befindet sich einer der beiden Hawker Stalls, die seit August 2016 vom Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet sind: Hill Street Tai Hwa Pork Noodle. Obwohl die Wartezeiten seit der Verkündung sprunghaft nach oben gegangen sein und nun bei einer Stunde liegen sollen, versuche ich heute mein Glück und mache mich auf den Weg zum Abendessen dorthin. Eine erste Erkundung zwei Tage zuvor hatte eine Schlange von neun Menschen um 10.30 Uhr morgens ergeben. Geht doch, denke ich.
Ich komme gegen 20.00 Uhr an und sehe schon von weitem, dass ich Glück habe. Beim Ankommen mache ich 12 Menschen aus, die vor mir warten. Da diese jedoch häufig mehr als eine Portion bestellen dauert es ein wenig länger. Ich bestelle das Gericht, wofür der Hawker Stall bekannt ist: Mince Pork Noodles. Es gibt vier Portionsgrößen, die von 5 bis 10 Singapur-Dollar reichen. Wobei die Portion für 6 Singapur-Dollar als „regular“ angegeben ist. Ich entscheide mich für die 8-Dollar Portion, nehme auch ein wenig Chili in die Sauce, als ich danach gefragt werde, und warte noch ein paar Minuten, bis mein Essen zubereitet wird.
Als ich an den Counter ranrücke sehe ich den großen Kochtopf. Mir steigt der Geruch der Brühe in die Nase und damit eine Vorahnung dessen, was mich geschmacklich erwartet. Das hier ist nicht die gemüseverliebte Küche Thailands und auch nicht die zarte Fischigkeit Japans. Hier gibt es Schwein, das nach Schwein schmeckt. Der Koch hantiert mit Schüsseln und Kellen, schöpft hier, schüttet da um, erwärmt Nudeln, mischt die Sauce an, und schüttet noch zweimal mehr hin und her. Hierin liegt auch der Grund für die Wartezeit. Die Gerichte werden offenbar nach immer der gleichen Art und Weise zubereitet, nichts wurde umgestellt und so hochskaliert, dass mehr Portionen pro Stunde rausgehen können. Die Zubereitung dauert eben so lange wie der Koch mischt und schüttet. Schließlich kassiert er und stellt dann eine kleine Schüssel Suppe sowie eine große Schüssel Nudeln mit Fleisch auf mein Tablett. Ich balanciere es zu einem Platz im Freien und bin nach nicht mal 40 Minuten glückliche Abendesserin.
Das Essen ist mein Referenzpunkt. Es ist das erste Mal in meinem Leben, das ich authentisch chinesisch esse. Ich habe keinerlei Vergleichsmöglichkeit, keinen Anknüpfungspunkt, weder werden Erinnerungen geweckt noch kommen Assoziationen auf. Der Geschmack breitet sich in meinem Gehirn aus, wie auf einem weißen Blatt Papier. Nicht mal der einfachste aller Mechanismen funktioniert: Schmeckt es gut? Ich weiß es nicht.
Daher erst einmal zum Handwerk: Der Hawker Stall serviert bak chor mie, ein ursprünglich chinesisches Nudelgericht, das typisch für Singapur ist. Die Basis bildet eine braune Soße, die aus vier Komponenten zusammengesetzt ist, so viel konnte ich beim Kochen beobachten. Wikipedia erklärt, dass es sich bei den vier Komponenten der Sauce um Chili, Öl, Essig und Sojasauce handelt. Darin werden die dünnen Mie-Nudeln gewschwenkt, die sich – ähnlich wie Vermicelli – zu einem kleinen Nest gruppieren. Obenauf verschiedene Sorten mageres, gekochtes Schweinefleisch: ich erkenne das helle Schnitzelfleich, dünn geschnittene Leberstücke, Fleischbällchen und helle Fleischkrümel, die ich nicht zuordnen kann. Als Topping kommen Frühlingszwiebeln und kleine Fischchips dazu.
Ich empfinde das Gericht als ungewohnt, in einer vollkommen neutralen Art und Weise. Und das ist es genau, was es zum Referenzpunkt für mich macht. Menschen mit deutlich mehr Erfahrung in der chinesischen Küche und einer viel geschulteren geschmacklichen Wahrnehmung haben es einsortiert als „eine sehr gute Küche, welche die Beachtung des Lesers verdient.“ Alles, was ich nun weiterhin aus der chinesischen Küche kennenlerne, kann ich dazu in Beziehung setzen und so langsam mein eigenständiges Geschmacksbild in der asiatischen Küche aufbauen.