Haruki Murakami: Kafka on the Shore

Ich habe Ewigkeiten schon kein Hörbuch mehr gehört. Dabei gab es immer Menschen, die Hörbücher konsumiert haben. Omas, die nicht mehr gut sehen und lesen konnten, Mütter, die Spaß daran fanden, und sogar Bekannte, die beruflich was mit Hörbüchern machen und regelmäßig  darüber twittern. Irgendwie ging es an mir vorbei.

Seit zwei Wochen bin ich jedoch im Hörbuch-Sog. Angefixt hatte mich die Mitbewohnerin, die zu jeder Gelegenheit, zu der sie nicht denken oder schreiben oder reden muss, ihr Tablet anwirft und sich von ihm was erzählen lässt. Meist sind es Fantasy-Geschichten, die ihr beim Möhrenschnippeln, Wäschelegen oder Bodenwischen die Zeit angenehmer machen. Ich verließ fluchtartig den Raum, sobald ich die bedächtige Erzählstimme hörte. Ich konnte nichts daran finden. Es ging an mir vorbei.

Zuletzt verfingen sich jedoch zwei ihrer Sätze in meinem Gehirn: „Wenn ich mal nachts ins Grübeln gerate, aber lieber schlafen will, mache ich mir das Hörbuch an und bin sofort wieder eingeschlafen.“ Und: „Seit ich Bücher höre, konsumiere ich wieder viel mehr Bücher.“ Seit der Zeit vor unserer Abreise und auch in der ersten Zeit hier schlief ich nachts manchmal schlecht. Einfach weil ich mir, unnötigerweise, Gedanken um alles Mögliche machte. Auch hatte ich mir für meine Auszeit hier vorgenommen, mehr zu lesen. Während der Diss und auch in der Zeit danach, habe ich mir dafür schlicht zu wenig Zeit genommen. Zudem entdeckte ich, dass die Bib hier über eine elektronische Bibliothek verfügt, und neben Ebooks auch Audiobooks verleiht. Eine gute Möglichkeit also, es einmal mit Hörbüchern zu probieren, ohne gleich einen Stapel CDs zu kaufen oder ein Hörbuch-Abo abzuschließen.

Als erstes suchte ich mir „Kafka on the Shore“ von Haruki Murakami aus. Eine bessere Wahl hätte ich nicht treffen können. Es ist eine ungekürzte Fassung, über 19 Stunden lang. Anfangs dachte ich noch, dass schaffe ich nie in den 21 Tagen Leihzeit. Ich griff mir innerlich an den Kopf, nach der 1000seitigen Anna schon wieder so einen Wälzer ausgesucht zu haben. Aber Murakami ist nicht Tolstoi. Und der Sog setzte ein.

Das Buch an sich ist schon wahnsinnig toll, komplex ohne anstrengend zu sein und spannend bis zum Schluss. Aber ich finde, die Audio-Version macht die Geschichte nochmal um 100% besser. Ich konnte es tagsüber manchmal nicht erwarten, dass ich im Bett noch schnell ein Kapitel hören konnte vor dem Einschlafen. Der Plot ist gar nicht so einfach zu erklären. Es geht um einen 15-jährigen Jungen, Kafka Tamura, der von zu Hause wegläuft. Und im zweiten Handlungsstrang um den älteren Mr. Nakata, der vielleicht nicht der Schlauste ist, jedoch mit Katzen sprechen kann und den irgendetwas mit dem jungen Ausreißer verbindet.

Kafkas Geschichte wird in den ungeraden Kapiteln erzählt, Nakatas Geschichte in den Geraden. Die Wechsel zwischen beiden Handlungssträngen machen es schon anspruchsvoll. Hinzu kommen Zeitsprünge und Rückblenden, so dass ich sehr aufpassen musste, um alles halbwegs zusammen zu bekommen. Aber auch hier hilft es, die verschiedenen Personen sprechen zu hören. Ihre japanischen Namen hätte ich als Leserin wahrscheinlich sehr schnell durcheinander gebracht. Gefühlt dachte ich, jeder Charakter würde von jemand anderem gelesen. Hinterher fand ich heraus, es sind nur zwei Sprecher. Unglaublich, was Stimmlage und Modulation ausmachen.

Mr. Nakata ist mir während der Zeit richtig ans Herz gewachsen. Die Figur wird mit einer eigenen Stimme viel plastischer. Ich konnte ihn bildlich vor mir sehen. Und die von Murakami eingebauten Eigenheiten kommen durch sein Sprechen erst richtig zum Tragen. Zum Beispiel behauptet Nakata bei fast jedem Essen, das ihm angeboten wird, dass eben dieses oder jenes eines seiner Leibgerichte sei: „Eel is one of Nakata’s favorites“, „Sardines are one of Nakata’s favorites.“ Ich kann mich nicht erinnern, dass er das einmal nicht sagt. Und musste jedes Mal schmunzeln, wenn der Satz mit der gleichen Betonung in jeder geschilderten Essenssituation wieder kam.

Wegen der ganzen Komplexität hatte ich gehofft, dass am Ende nochmal ein erzählender Teil folgt und Murakami mir alles erklärt, was ich bis dahin nur halb verstanden hatte. Den gibt es aber nicht. Ich werde das Buch also irgendwann nochmal lesen oder hören. Und dabei sicher noch mehr von dem entdecken, was er darin versteckt hat. Das ist aus meiner Sicht das sicherste Zeichen dafür, dass es ein gutes Buch war.

Die Version, die ich gehört habe, ist von Naxos Audiobooks. Auf der verlinkten Homepage gibt es eine Hörprobe. Und auch bei Audible gibt es den Titel.

Haruki Murakami: Kafka on the Shore (unabridged), read by Sean Barrett, and Oliver Le Sueur, Naxos Audiobooks, 2006.