Momente in Gedanken #7

Wie kurze Pausen der Alltagsroutine zu Diskussionen führen

Kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof bleibt der Regionalexpress stehen. Ein Zugbegleiter fragt seine Kollegin, wann denn die Rente anstehe. Nach deren kurzer, ungefährer Antwort weist der Zugbegleiter darauf hin, dass der deutsche Staat es nicht hin bekäme, denn sonst wäre er schon in Rente. Er müsse noch für die Smartphone-Jugend arbeiten – und für die Schwarzen. Das sei ja so schlimm geworden. Man sei auf der Straße nicht mehr sicher. In Chemnitz könne man um 12 Uhr mittags nicht mehr unbehelligt durch die Innenstadt gehen. Da lebe er lieber in einer Diktatur. Ich drängele mich in seine Aussagen: „Ich bin froh, in einer Demokratie zu leben, und Ihre Einschätzungen, was die Sicherheit angeht, kann ich auch nicht teilen.“ Es sei doch aber so, und es gebe ja auch solche und solche Diktaturen. Er habe in einer gelebt. Man könne halt seine Meinung nicht mehr sagen. Wo er denn seine Meinungen nicht sagen dürfe. Er könne mir doch ins Gesicht sagen, dass er finde, ich sehe scheiße aus, dass ihm meine Brille nicht gefalle, dass ihm die Nase eines vom ihm sogenannten Schwarzen nicht gefalle. Das könne er alles überall öffentlich sagen. Dann solle ich mal in bestimmte Gegenden gehen. Da könne man das nicht sagen. Er könne das hier am Marktplatz doch sagen und die Polizei würde ihn gewähren lassen, da es eben nicht strafbar ist, seine Meinung zu äußern. „Das ist ja gerade das Gute an einer Demokratie, denn gerade in einer Diktatur kann man eben nicht alles sagen.“ Ja, man müsse dort eben aufpassen, dass man sich nicht mit den Oberen anlegt. Ich solle mal in seinen Belegschaftsraum kommen und dann solche Sachen sagen, wenn der Vorgesetzte anwesend ist. Da würde man sofort rausgeschmissen. „Das ist nun aber ein Problem ihres Betriebs und keine deutschlandweite Sache.“ In der Presse fände man nur eine Mainstream-Meinung. Er lese ja zugegebenermaßen die Bildzeitung. Und im Spiegel, im Focus: alles das Gleiche. „Dem stimme ich zu, aber aus anderen Gründen als Sie. Denn ich fühle mich nicht ausreichend informiert und kann aus deren Lektüre nichts wirklich Neues lernen.“ In einer Diktatur würde er aber nur eine Einheitszeitung zu lesen bekommen. Aber im Bahnhofskiosk gebe es sicherlich Zeitschriften, in denen er seine Meinung wiederfinde. Dies alles sagte ich, und hatte ein T-Shirt an, auf dessen Weiß vierzeilig in schwarzen, sechs Zentimeter hohen Buchstaben stand: FREEDOM CANNOT BE SIMULATED. Ich habe mich dann noch entschuldigt, ihn so angesprochen zu haben. Er hatte sich mit seinen Aussagen aber zu sehr exponiert. Er entgegnete mir, dass er gerne darüber disktutiere.

Ich bin im Nachhinein sehr froh, dass ich mich kurz entschuldigt habe. Ich denke, dass dadurch eine Chance besteht – wenn auch vielleicht eine sehr kleine – dass mein Gegenüber das Gespräch in Erinnerung behält, und zwar in einer nicht allzu schlechten, die seine Sicht noch zementiert. Möglicherweise wird er sich deswegen in der Öffentlichkeit nie wieder so äußern. Das ist einerseits gut, denn dann verbreiten sich solche Gedanken nicht. Andererseits ist es auch schlecht, wenn diese Äußerungen nur in privaten Hinterzimmern getätigt werden. Man hat dann keine Ahnung, dass Menschen solche Gedanken haben und man kann nicht mit ihnen darüber reden. Vielleicht ändern sich aus Diskussionen ja die Gedanken, denn der Kopf ist ja bekanntlich rund.

Das Gespräch fand am Nachmittag des 06.05.2018 statt.

Ich habe mir den Gesprächsverlauf anschließend sofort notiert, erhebe aber keinen Anspruch, dass ich mir jedes Wort meines Gegenüber genau gemerkt habe.