Vademecum für neue Zeiten

Was machen Menschen, denen in diesen neuen Zeiten durch den Begriff der „intellektuellen Elite“ zunehmend ein Außenseitertum zugewiesen wird? Zuerst einmal vergewissern sie sich selbst der aktuellen Situation.  Als Vademecum kann hierfür die im Folgenden wiedergegebene Leseliste aus der Samstagsausgabe der Süddeutschen Zeitung (26./27. November 2016, Nr. 274) dienen:

Platon, Gorgias (um 400 v. Chr.): über die demagogische Kraft der Rhetorik

Mary Shelley, Frankenstein oder der moderne Prometheus (1818):  über die Demonisierung von Außenseitern

Jewgenij Samjatin, Wir (1920): über das Problem des Individuums in einem totalitären Staat

Upton Sinclair, The Brass Check (1920): über den Journalismus als System in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Marie Jahoda und andere, Die Arbeitslosen von Marienthal (1933): über die sozialen Auswirkungen von Massenarbeitslosigkeit

Sinclair Lewis, It can’t happen here (1935): was die Wahl eines autoritären US-Präsidenten im Jahr 1936 und für einen „Büchermenschen“ bedeutet hätte

Ralph Ellison, Der unsichtbare Mann (1952): über die Identität eines Afroamerikaners, der in Harlem zum Anhänger des Kommunismus wird

Czeslaw Milosz, Verführtes Denken (1953): über die Empfänglichkeit von Intellektuellen für autoritäre Ideologie

Eugène Ionesco, Die Nashörner (1957): über steigende Wut in einer Gesellschaft und ihre Auswirkung auf Kommunikation und Moral im Zusammenleben

Richard Hofstaedter, The Paranoid Style in American Politics (1964): über die Tradition des paranoiden Politikstils

Hannah Arendt, Macht und Gewalt (1970):  über Bedingungen für die Ausübung von Macht und ihr Unterschied zu politischer Gewalt

Margaret Atwood, Der Report der Magd (1985): wie das Leben von Frauen wäre in einem totalitär geführten Amerika christlich-fundamentaler Ausprägung

Umberto Eco, Urfaschismus (1995): über Kernelemente des Faschismus als politisches Modell

Richard Rorty, Stolz auf unser Land (1997): über das Ergebnis von linker Politik, welche die Mittelschicht nicht mehr anspricht

Philip Roth, Verschwörung gegen Amerika (2004): über ein Amerika, das 1940 statt Roosevelt den populären Fliegerhelden Charles Lindbergh zum Präsidenten gewählt hätte

George Lakoff, The Political Mind (2008)/Jonathan Haidt, The Righteous Mind (2012): über die Rolle von Vernunft im aktuellen politisch-gesellschaftlichen Diskurs

Danach können die als „intellektuelle Elite“ Bezeichneten besser gegen die neuen Zeiten antreten.

The Times They Are a-Changin‘

Durch die transatlantische Zeitverschiebung kam die Nachricht am Morgen des neunten Novembers des Jahres 2016 zu uns. Der Schlaf wurde abrupt mit den Worten beendet: „Etwas Schlimmes ist passiert.“ Wir waren gewarnt, hatte sich doch schon im Juni Unerwartetes über Nacht ereignet. Gemäß eines Kinderglaubens hatten wir deshalb immer wieder laut ausgesprochen, was wir nicht haben wollen, in der Hoffnung, dass sich ein Bann realisiert.

Einst brannten an einem neunten November in der Reichsprogromnacht Wohnungen, Geschäfte, Gebetshäuser und Friedhöfe in Deutschland. Was auf dieses Ereignis folgte, wurde vor nicht allzu langer Zeit am selben Tag des Jahres gewissermaßen wiedergutgemacht. An einem neunten November fiel die Mauer, welche die beiden Teile Deutschlands voneinander getrennt hatte.

Nun verbinden wir dieses Datum erneut mit etwas Folgenschwerem: Am neunten November des Jahres 2016 hat uns die Nachricht getroffen, dass die amerikanische Bevölkerung den republikanischen Kandidaten Donald Trump zu ihrem Präsidenten gewählt hat. Schon früh am europäischen Morgen gab es daran keinen Zweifel mehr. Das Wenige, was wir in den ersten Stunden erfahren konnten, betraf die Umstände: Vermehrt Weiße, Männer und auf dem Land Lebende haben Trump gewählt. Was die Ursachen angeht, bleiben wir ratlos.

Zeiten ändern sich, sagt man – man kann es sogar singen. Ja, vielleicht können wir gegen die drohenden Veränderungen ansingen, gegen den weiteren Abstieg der Ärmeren, gegen die Spaltung ganzer Nationen, gegen den Unfrieden zwischen Menschen verschiedener Herkunft. Auf jeden Fall müssen wir wissen, dass es einen weiteren neunten November geben wird.